Reden: Von Amanda Gorman lernen

Die Art, wie Amanda Gorman ihr Gedicht bei der Inauguration von US-Präsident Joe Biden vortrug, eignet sich als Lehrstück für Rhetorik. Nein, natürlich werden Reden für gewöhnlich nicht so vorgetragen wie Gedichte. Allerdings: Selten, äußerst selten wird ein Gedicht so gut vorgebracht. Davon können Redner lernen.

 

Denn der Gedicht-Vortrag enthielt zahlreiche Elemente brillanter Rhetorik. Atemberaubend, schlicht großartig. Auch: zart. Fast zögert man, ihn zu sezieren.

 
Inhalt als Grundlage

 

Natürlich: Keine Rede kommt ohne guten Inhalt aus – wie sollte das gehen? Auf der Basis mäßigen Inhalts ist kein rhetorisches Meisterstück zu erwarten: Das würde die Kunst der Rede und deren Handwerkszeug überfrachten. Andererseits wird beachtlicher Inhalt oft zu lieblos, nachlässig oder unbedacht vorgetragen.

Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ weist das Gewicht, den Inhalt und den Anspruch einer politischen Rede auf. So verdient sie es, auch als solche gewürdigt zu werden. Dass sie den Mut zur Kürze, zur Andeutung aufbringt, wie sie der Lyrik eigen sind, und sich so der Mehrdeutigkeit aussetzt, spricht für sie. Gorman trägt keine wissenschaftliche Abhandlung vor. Mutig trägt sie ihr Gedicht in die kalte Luft.

 

Die Wörter lieben

 

Die Art, wie Gorman ihre Wörter behandelt, ist meisterhaft. Wie sie sich und ihnen Zeit lässt – und damit uns. Wie sie atmet, Pausen macht, ihre Zuhörerschaft ansieht, die Welt (wörtlich) anspricht. Wie sie Wörter und Sätze hegt und pflegt, ihnen aufhilft, Leben einhaucht, Liebe, Mut, Tapferkeit, Energie und Zuversicht mitgibt – und sie in den Januar entlässt: in die Kameras der Welt, in unsere Köpfe und Herzen. Schon ganz zu Beginn breitet sie die Arme aus, als eröffne sie als Dirigentin ein Konzert: doch weich, verletzlich, von größter Innerlichkeit. Ihre Hände zeichnen, modellieren ihre Worte nach. Selten wird Luft als Medium so spürbar, sichtbar – und als Brücke zu uns.

 

Die Liebe leben

 

Gorman liebt, was sie sagt – und verkörpert es. Authentizität, die die Welt benötigt, ist ein Schlüssel, ohne den Redekunst hohl würde. Amanda Gorman liebt ihre Wörter, ihr Land, die Menschen, das Leben. Dass ihre Botschaft positiv ist, Hoffnung machen will, macht es ihr leichter. Aber, wie gesagt: Letztlich kommt keine Rede ohne guten Inhalt aus. Hat Goebbels gute Reden gehalten? Tragisch, dass er Rhetorik beherrschte.

Gute Lyrik und gute Rhetorik berühren sich. Wilfrid Stroh (*1939), bis 2005 Professor für Klassische Philologie in München, weist darauf hin, dass das wohl älteste Gedicht Europas, Homers Ilias, nach den Regeln der Rhetorik beginnt: das Wohlwollen der Zuhörer zu gewinnen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen und sie aufnahmefähig zu machen (Die Macht der Rede, S. 25). Amanda Gormans Gedicht-Vortrag tut auch dies in außerordentlicher Weise. Man kann viel daraus lernen.

 

hr